Urteilsanzeige GG,IT,BerufsR

12.04.2005

BVerfG Az (2 BvR 1027/02) Link zur Originalentscheidung

Datenbeschlagnahme bei Berufsgeheimnisträgern (Steuerfahndung)

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Durchsuchung und Beschlagnahme des (gesamten) elektronischen Datenbestands einer Rechtsanwaltskanzlei und einer Steuerberatungsgesellschaft im Rahmen eines gegen einen der Berufsträger gerichteten Ermittlungsverfahrens (wegen einer Steuerstraftat). Der Zugriff im Rahmen einer gerichtlich angeordneten Durchsuchung erstreckte sich auf "diverse Daten auf eigenen Medien gespeichert". Dabei handelte es sich um vor Ort von den Ermittlungsbeamten angefertigte Kopien aller Daten auf den Festplatten von Computern der Rechtsanwaltskanzlei und der Steuerberatungsgesellschaft.

1. Die Strafprozessordnung erlaubt die Sicherstellung und Beschlagnahme von Datenträgern und hierauf gespeicherten Daten als Beweisgegenstände im Strafverfahren.
2. Bei Durchsuchung, Sicherstellung und Beschlagnahme von Datenträgern und darauf vorhandenen Daten muss der Zugriff auf für das Verfahren bedeutungslose Informationen im Rahmen des Vertretbaren vermieden werden.
3. Zumindest bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen ist ein Beweisverwertungsverbot als Folge einer fehlerhaften Durchsuchung und Beschlagnahme von Datenträgern und darauf vorhandenen Daten geboten. (Leitsätze)

Aus den Gründen:
Die Sicherstellung und Beschlagnahme der Datenträger und der hierauf gespeicherten Daten greift in das Grundrecht der Mandanten auf informationelle Selbstbestimmung ein und beeinträchtigt die hiermit zusammenhängenden Belange der Allgemeinheit. Die Möglichkeit eines unbeschränkten Zugriffs auf den Datenbestand einer Rechtsanwalts- oder Steuerberaterkanzlei könnte deren Mandanten insbesondere auch in den Fällen von einer vertraulichen Kommunikation oder gar von einer Mandatierung abhalten, in welchen ein Zusammenhang zwischen dem Mandat und der dem Beschuldigten zur Last gelegten Tat unter keinen Umständen festgestellt werden kann.
Der Zugriff auf den gesamten Datenbestand einer Rechtsanwaltssozietät und einer Steuerberatungsgesellschaft beeinträchtigt wegen seines Umfangs in schwerwiegender Weise das für das jeweilige Mandatsverhältnis vorausgesetzte und rechtlich geschützte Vertrauensverhältnis zwischen den Mandanten und den für sie tätigen Berufsträgern.

Der Rechtsanwalt ist "Organ der Rechtspflege" und dazu berufen, das Interesse seiner Mandanten zu vertreten. Dem Rechtsanwalt als berufenem unabhängigen Berater und Beistand obliegt es, im Rahmen seiner freien und von Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Berufsausübung seinen Mandanten umfassend beizustehen. Voraussetzung für die Erfüllung dieser Aufgabe ist ein Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant. Von Bedeutung ist hierbei, dass das von dem Datenzugriff berührte Tätigwerden des Anwalts auch im Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen und geordneten Rechtspflege liegt.

Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach die fundamentale objektive Bedeutung der "freien Advokatur" hervorgehoben. Diese objektiv-rechtliche Bedeutung der anwaltlichen Tätigkeit und des rechtlich geschützten Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Mandant wird jedenfalls dann berührt, wenn wegen der Gefahr eines unbeschränkten Datenzugriffs ein Mandatsverhältnis von Anfang an mit Unsicherheiten hinsichtlich seiner Vertraulichkeit belastet wird. Mit dem Ausmaß potentieller Kenntnis staatlicher Organe von vertraulichen Äußerungen wächst die Gefahr, dass sich auch Unverdächtige nicht mehr den Berufsgeheimnisträgern zur Durchsetzung ihrer Interessen anvertrauen.

Es besteht zudem die Gefahr, dass Mandanten, welchen der Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf auch sie betreffende und regelmäßig vertrauliche Daten bekannt wird, das Mandatsverhältnis zu ihrem Rechtsanwalt oder Steuerberater kündigen. Damit hat der Zugriff auf die Kanzleidaten beschränkende Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entfaltung der Beschwerdeführer. Die wirtschaftliche Betätigung als Ausprägung der durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit genießt grundrechtlichen Schutz.

Die besondere Eingriffsintensität des Datenzugriffs ergibt sich daraus, dass die strafprozessuale Maßnahme wegen der Vielzahl verfahrensunerheblicher Daten eine Streubreite aufweist und daher zahlreiche Personen in den Wirkungsbereich der Maßnahme mit einbezogen werden, die in keiner Beziehung zu dem Tatvorwurf stehen und den Eingriff durch ihr Verhalten nicht veranlasst haben. Hinzu kommt die besondere Schutzbedürftigkeit der von einem überschießenden Datenzugriff mitbetroffenen Vertrauensverhältnisse. Daher bedarf der eingriffsintensive Zugriff auf Datenträger - insbesondere von Rechtsanwälten und Steuerberatern als Berufsgeheimnisträgern - im jeweiligen Einzelfall in besonderer Weise einer regulierenden Beschränkung.

Das Übermaßverbot verbietet Grundrechtseingriffe, die ihrer Intensität nach außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehen. Grundrechte und Grundrechtsbegrenzungen sind in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. Bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe muss die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt werden.

Eingriffe in Rechte Unverdächtiger sind nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig. Die Strafverfolgungsbehörden können die sichergestellten, vielfach überschießenden und einem besonderen Vertrauensschutz unterworfenen Daten der mittelbar Betroffenen zur Kenntnis nehmen. Deren Recht auf informationelle Selbstbestimmung sowie die Gefährdung der rechtlich geschützten Vertrauensverhältnisse zwischen den jeweiligen Berufsgeheimnisträgern und ihren Mandanten müssen daher in den Blick genommen werden. Von grundlegender Bedeutung ist hierbei auch der objektiv-rechtliche Gehalt der "freien Advokatur". Rechtsanwälte als Organe der Rechtspflege und Steuerberater sowie deren Mandanten sind auch im öffentlichen Interesse auf eine besonders geschützte Vertraulichkeit der Kommunikation angewiesen.

Die Auffassung des Landgerichts Hamburg, wonach eine Differenzierung nach unterschiedlichen Daten nicht in Betracht komme, weil der auf einem Datenträger befindliche Datenbestand im Ganzen ein Beweismittel sei, der unteilbar der Beschlagnahme unterliege, genügt nicht den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Sicherstellung und Beschlagnahme der Daten von Berufsgeheimnisträgern.

Die Auffassung des Landgerichts führt dazu, dass eine von Verfassungs wegen gebotene Prüfung der Umstände des Einzelfalls unterbleibt. Abwägungserhebliche Umstände wie die geschützte Vertraulichkeit auch drittbezogener Daten, der konkrete Tatvorwurf, die Verdachtsqualität, die Beweiserheblichkeit der gespeicherten Informationen sowie die Auffindewahrscheinlichkeit verfahrenserheblicher Daten bleiben unberücksichtigt. Das Landgericht verkennt, dass der Eingriff eine hohe Intensität aufweist und eine Vielzahl von Dritten betroffen sind. Die individuelle sowie gemeinwohlbezogene Bedeutung der rechtlich besonders geschützten Vertrauensverhältnisse zwischen Mandanten und ihren Rechtsanwälten, Strafverteidigern sowie Steuerberatern bleibt unbeachtet. Das Landgericht hat dem - gegebenenfalls auch erheblichen - Strafverfolgungsinteresse im Verhältnis zu weiteren betroffenen und rechtlich in besonderer Weise geschützten Interessen einen absoluten, der Abwägung mit entgegenstehenden Belangen nicht zugänglichen Wert beigemessen.

Es hat die gebotene Prüfung der Verfahrensrelevanz und der Trennbarkeit der sichergestellten Daten nicht vorgenommen und daher eine Begrenzung der überschießenden Datenerhebung nicht erwogen. Auf der Grundlage dieser Rechtsauffassung wird auch nicht ersichtlich, ob und auf welche Weise das Gericht den "verantwortungsvollen Umgang mit den gesicherten Daten" durch die Staatsanwaltschaft überprüfen und gegebenenfalls beschränken will.

Anmerkung:

Alle Daten? Wirklich alle Daten? In einer Anwalts- und Steuerberatungskanzlei? Von allen Mandaten? Von allen Berufsträgern?
Wohlgemerkt, es geht hier nicht um die Operation "enduring freedom", Mord und Totschlag - sondern um Steuerhinterziehung.

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - Übermaßverbot - rechtsstaatlich faires Verfahren

Der Glaube an den Rechtsstaat wird durch das Vorgehen der Staatsanwaltschaften häufig bis an die Grenze des Ertragbaren belastet. Die Entscheidung zeigt aber eindruckvoll, dass das BVerfG für den Rechtsstaat schlichtweg unverzichtbar ist.

Ein Satz der Urteilsbegründung dürfte aber ausgerechnet im Bereich der Steuerfahnung -ungewollt- passen:

"Das Grundrecht dient dabei über das hinaus, was es unmittelbar gewährleistet, auch dem Schutz vor einem Einschüchterungseffekt, der entstehen und zu Beeinträchtigungen bei der Ausübung anderer Grundrechte führen kann, wenn für den Einzelnen nicht mehr erkennbar ist, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß."

 


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